Hier das Urteil
FG Rheinland-Pfalz Urteil vom 22.01.2002 - 2 K 2559/ 99
Entscheidungsstichwort (Thema)
Progressionsvorbehalt bei unterjährigem Wegzug eines Grenzgängers ins Ausland
Leitsatz
Für einen Grenzgänger, der ganzjährig im Inland innerhalb des deutschen Grenzgürtels arbeitet, ist für das Jahr des Umzugs von Deutschland nach Frankreich (Grenzdepartement) auf die vor dem Wegzug erzielten Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit der Progressionsvorbehalt mit dem Steuersatz anzuwenden, der sich ergibt, wenn die nach dem Umzug im Inland erzielten Einkünfte aus nichtselbstständiger Arbeit einbezogen werden.
Normenkette
DBAF Art. 13 Abs. 5; DBAF Art. 20 Abs. 1; EStG § 2 Abs. 7 S. 3, § 32b Abs. 1 Nr. 2 , § 49 Abs. 1 Nr. 4
Tatbestand
Streitig ist, ob der Progressionsvorbehalt zur Bestimmung des Steuersatzes zur Anwendung kommt.
Der Kläger und seine Ehefrau werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Beide hatten bis zum 31. Juli 1997 einen Wohnsitz im Inland. Seit dem 1. August 1997 wohnen sie in ... / Frankreich. Der Kläger erzielte im gesamten Streitjahr Arbeitslohn bei einem inländischen Arbeitgeber, der Firma ... Gemäß Freistellungsbescheid des Finanzamts ... vom 26. August 1997 wurde von dem seit 1. August 1997 gezahlten Arbeitslohn kein Lohnsteuerabzug vorgenommen, da dieser nach der im Doppelbesteuerungsabkommen mit Frankreich enthaltenen Regelung über Grenzgänger in der Bundesrepublik Deutschland steuerbefreit ist. Im Einkommensteuerbescheid 1997 vom 4. Februar 1999 behandelte der Beklagte den vom 1. August 1997 bis zum 31. Dezember 1997 bezogenen Arbeitslohn des Klägers (77.920,-- DM) als steuerfrei und bezog ihn nach § 32b EStG in die Berechnung des Steuersatzes ein (26,0476 % auf 65.016,-- DM zu versteuerndes Einkommen). - Der Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid blieb erfolglos.
Mit der Klage trägt der Kläger vor, die Einbeziehung der Einkünfte ab 1. August 1997 bis 31. Dezember 1997 in die Berechnung des Steuersatzes zwecks Durchführung des Progressionsvorbehalts sei aufgrund neuerer Finanzgerichtsrechtsprechung nicht mehr anzuwenden. Das Finanzgericht Baden-Württemberg habe mit Beschluss vom 16. Februar 1999 5 V 34/98, rechtskräftig entschieden, dass bei Wegzug ins Ausland, unter der Voraussetzung, dass ab dieser Zeit keine inländischen Einkünfte nach § 49 EStG bezogen würden, der Progressionsvorbehalt nicht anzuwenden sei. Dies sei auch logisch, weil durch den Wohnsitzwechsel in beiden Staaten eine Veranlagung im Rahmen der unbeschränkten Steuerpflicht durchzuführen sei und durch die doppelte Anwendung des Progressionsvorbehalts eine erhöhte Steuer zu zahlen wäre. Klägerischerseits werde davon ausgegangen, dass die Entscheidung des Finanzgerichts Baden-Württemberg auch vom Finanzgericht Neustadt übernommen werde. Das Finanzamt als Antragsgegner im vor dem Finanzgericht Baden-Württemberg durchgeführten Verfahren habe kein Rechtsmittel eingelegt, obwohl das Gericht die Beschwerde ausdrücklich zugelassen habe.
In der mündlichen Verhandlung wird ergänzend ausgeführt, ein genügender tatsächlicher Anknüpfungspunkt für die Anwendung des in Artikel 20 DBA-Frankreich vorgesehenen Progressionsvorbehalts sei nicht gegeben; zudem sei in diesem Zusammenhang eine Regelung der temporären Ansässigkeit im anderen Land - wie im DBA-Schweiz - im DBA-Frankreich nicht enthalten. Auch sei zu berücksichtigen, dass der Progressionsvorbehalt nicht eingreifen würde, wenn der Kläger bereits zum 31. Dezember des Vorjahres / 1. Januar des Streitjahres seinen Wohnsitz in Frankreich verlegt hätte.
Der Kläger beantragt,
den Einkommensteuerbescheid 1997 vom 4. Februar 1999 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 3. August 1999 dahingehend zu ändern, dass das vom Kläger vom 1. August bis 31. Dezember bezogene inländische Arbeitseinkommen nicht zum Progressionsvorbehalt herangezogen wird,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Revision zuzulassen.
Er trägt vor, gemäß der Neufassung des § 2 Abs. 7 EStG und wegen Wegfalls des § 25 Abs. 2 EStG ab dem Veranlagungszeitraum 1996 sei der Kläger für das ganze Streitjahr als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig veranlagt worden. Die nach dem Doppelbesteuerungsabkommen mit Frankreich steuerbefreiten Einkünfte unterlägen nach § 32b EStG dem Progressionsvorbehalt. - Im übrigen gehe auch das Finanzgericht Baden-Württemberg in seinem vom Kläger zitierten Beschluss grundsätzlich davon aus, dass die Anwendung des Progressionsvorbehalts den gesetzlichen Bestimmungen entspreche und bejahe lediglich in einem Verfahren wegen Aussetzung der Vollziehung im Rahmen der von ihm vorzunehmenden summarischen Prüfung Zweifel an der Rechtmäßigkeit des dort angefochtenen Verwaltungsakts. Dagegen habe das Finanzgericht Köln im Beschluss vom 12. März 1999 8 V 544/ 99 Zweifel an der Rechtmäßigkeit der gesetzlichen Regelung verneint.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
Der Beklagte hat zutreffenderweise gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG die in der Zeit vom 1. August 1997 bis 31. Dezember 1997 vom Kläger erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit für die Berechnung des Steuersatzes im Rahmen des Progressionsvorbehalts einbezogen.
Nach § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG ist der Progressionsvorbehalt anzuwenden, wenn ein während eines Veranlagungszeitraums nur zeitweise unbeschränkt Steuerpflichtiger, etwa nach einem Wegzug ins Ausland, auch Einkünfte erzielt hat, die nicht der deutschen Einkommensteuer unterliegen; dies gilt, wie der 2 . Halbsatz von § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG klarstellt, nur für die Fälle der zeitweise unbeschränkten Steuerpflicht einschließlich der in § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG geregelten Fälle. Gemäß § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG sind die während der beschränkten Einkommensteuerpflicht erzielten inländischen Einkünfte in eine Veranlagung zur unbeschränkten Einkommensteuerpflicht einzubeziehen. Beschränkte Steuerpflicht liegt vor - wenn die Voraussetzungen für unbeschränkte Steuerpflicht (insbesondere Wohnsitz im Inland) nicht gegeben sind (§ 1 Abs. 3 EStG) - bei Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, die im Inland ausgeübt wird (§ 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG); dies ist bei den Einkünften des Klägers für die Zeit ab 1. August 1997 der Fall. Der Progressionsvorbehalt ist in Artikel 20 Abs. 1 DBA-Frankreich vorgesehen und im EStG, hier § 32b Abs. 1 Nr. 2 , näher geregelt. - Danach ist auch für die vom Kläger in der Zeit bis 31. Juli 1997 erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit unter Anwendung des Progressionsvorbehalts der Steuersatz anzusetzen, der sich ergibt, wenn die ab 1. August 1997 erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit mit einbezogen werden.
Wie das Finanzgericht Baden-Württemberg im Beschluss vom 16. Februar 1999 5 V 34/98, EFG 1999, 438, ausgeführt hat (vgl. auch zum Folgenden), ist § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG als Folge der Neufassung des § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG durch das Jahressteuergesetz 1996 eingeführt worden. § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG betrifft Fälle, in denen ein Steuerpflichtiger während eines Kalenderjahres sowohl unbeschränkt als auch beschränkt steuerpflichtig ist, z. B. - wie im Streitfall - bei Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland unter Beibehaltung der Arbeitsstelle im Inland. Gegenüber der früheren Regelung sind mehrere Ermittlungszeiträume für ein Kalenderjahr, was zu Besserstellungen bei Pauschbeträgen, Freibeträgen und insbesondere bei dem progressiven Tarif der Einkommensteuer führen konnte, durch die Neuregelung ausgeschlossen. Nach der ab Veranlagungszeitraum 1996 geltenden Fassung des § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG werden deshalb die Einkünfte des Kalenderjahres während der unbeschränkten und der beschränkten Steuerpflicht (inländische Einkünfte) zusammengefasst und die Veranlagung aufgrund eines einzigen Ermittlungs- und Veranlagungszeitraums nach den für die unbeschränkte Steuerpflicht geltenden Regeln durchgeführt.
Die Einbeziehung der inländischen, jedoch nach Artikel 13 Abs. 5 DBA-Frankreich steuerfreien Einkünfte - hier im Rahmen des Progressionsvorbehalts - dient danach der Gleichmäßigkeit der Besteuerung.
Der Tatbestand des § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG - so das FG Baden-Württemberg, a. a. O. - beschränkt sich nicht auf den Fall des Wechsels zwischen unbeschränkter und beschränkter Steuerpflicht. Er erfasst vielmehr alle Fälle der zeitweisen unbeschränkten Steuerpflicht während eines Veranlagungszeitraums. Der Wechsel zur beschränkten Steuerpflicht ist nur ein Unterfall. § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG betrifft demnach zwei Fälle:
Der Steuerpflichtige ist nur zeitweise unbeschränkt steuerpflichtig (z. B. aufgrund unterjährigen Zuzugs nach oder Wegzugs aus Deutschland) und bezieht während der Zeit seiner beschränkten Steuerpflicht keine inländischen Einkünfte im Sinne des § 49 EStG (§ 32b Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 EStG).
Der Steuerpflichtige ist nur zeitweise unbeschränkt steuerpflichtig und bezieht während der Zeit seiner beschränkten Steuerpflicht inländische Einkünfte im Sinne des § 49 EStG (§ 32b Abs. 1 Nr. 2 Fall 2 i. V. m. § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG).
Übereinstimmend hiermit führt Frenz in Kirchhof / Söhn, EStG, § 32b Rnr. E 28 bis 30 aus:
Die Regelung (= Neuregelung des § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG) wurde im Jahressteuergesetz 1996 eingeführt, um die Leistungsfähigkeit gleichheitsgerecht zu erfassen. Der mit diesem Hintergrund eingefügte § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG betrifft alle Fälle lediglich zeitweise unbeschränkter Steuerpflicht im Veranlagungszeitraum. Im Veranlagungszeitraum des Beginns, Endes oder Wechsels der Steuerpflicht werden nicht mehr zwei, sondern es wird nur noch eine Veranlagung durchgeführt. Die unbeschränkt steuerpflichtigen und gegebenenfalls nach § 49 beschränkt steuerpflichtigen Einkünfte werden zusammengerechnet und bilden die Bemessungsgrundlage für die Veranlagung zur Einkommensteuer als unbeschränkt Steuerpflichtiger.
Zusammenfassend ist danach für den vorliegenden Streitfall festzuhalten, dass Ziel der Neuregelung war, für das gesamte Kalenderjahr (u. a.) einen Steuersatz nach der weltweiten Leistungsfähigkeit zu erreichen; bei § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG ist auch ein negativer Progressionsvorbehalt möglich (vgl. Frenz, a. a. O., Rnr. E 30).
Ob für den Streitfall auch § 32b Abs. 1 Nr. 3 EStG zutrifft, kann somit dahinstehen; vgl. hierzu Probst in Herrmann / Heuer / Raupach, EStG, § 32b Anm. 76 a. E. (bejahend).
Die Ausführungen des Klägers bieten keinen Anlass zu einer anderen Beurteilung.
Der Beschluss des FG Baden-Württemberg vom 16. Februar 1999 betrifft einen Fall, in dem nach Wegzug ins Ausland ausländische Einkünfte erzielt wurden, sonach während dieses Zeitraums keine weitere Beziehung zum Inland bestand (nur) für diesen Fall des steuerlichen Zugriffs auf ausländische Einkünfte schließt sich das FG Baden-Württemberg den in der Literatur geäußerten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der §§ 2 Abs. 7 Satz 3, § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG an, weil insoweit ein Verstoß gegen DBA-Recht vorliegen könne (sog. „treaty overriding“). Im hiesigen Streitfall sind in der Zeit ab 1. August 1997 jedoch inländische Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit gegeben, so dass ein deutlicher Bezug zum Inland vorliegt; von „treaty overriding“ kann deshalb nicht gesprochen werden, vielmehr unterliegen diese Einkünfte nach Artikel 13 Abs. 5 DBA-Frankreich der französischen Besteuerung und im Inland dem Progressionsvorbehalt. Der Begriff der Einkünfte in dem Progressionsvorbehalt des Artikel 20 DBA-Frankreich bestimmt sich nach deutschem Recht; gemäß §§ 49 Abs. 1 Nr. 4, 2 Abs. 7 Satz 3 EStG sind der deutschen Einkommensteuer unterliegende (beschränkt steuerpflichtige) Einkünfte gegeben, die einheitlich (hier in Form des Progressionsvorbehalts) zu behandeln sind. - Das Finanzgericht Köln, Beschluss vom 12. März 1999 8 V 544/ 99 , sieht, anders als das FG Baden-Württemberg (a. a. O.), keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Einbeziehung ausländischer (in den USA erzielten) Einkünfte.
Entgegen der vom Kläger in der mündlichen Verhandlung geäußerten Auffassung liegt auch Ansässigkeit im Sinne des Artikel 20 Abs. 1 DBA-Frankreich vor; während der Zeit bis 31. Juli 1997 war der Kläger in Inland ansässig; gemäß Artikel 2 Abs. 1 Nr. 4a DBA-Frankreich war der Kläger eine Person, die nach dem deutschen Recht aufgrund des Wohnsitzes steuerpflichtig war. Ganzjährige Ansässigkeit ist nicht erforderlich - eine derartige Annahme wäre auch sinnwidrig, da sich dann die Frage der Doppelbesteuerung überhaupt nicht stellen würde. Besondere Regelungen betreffend temporäre inländische bzw. französische Steuerpflicht sind im DBA-Frankreich nicht enthalten.
Eine Doppelbesteuerung - oder auch nur übermäßige Besteuerung - tritt durch die Anwendung des Progressionsvorbehalts nicht ein; der erhöhte Steuersatz wird nur auf die bis 31. Juli 1997 erzielten Einkünfte angesetzt; auch Frankreich wird gegebenenfalls einen erhöhten Steuersatz nur auf die ab 1. August 1997 erzielten Einkünfte anwenden, da die bis zum Wohnsitzwechsel angefallenen Einkünfte nicht der französischen Besteuerung unterliegen.
Zweifel an der Rechtslage in dem Jahr des Wohnsitzwechsels ergeben sich nicht daraus, dass in den Folgejahren, d. h. während ganzjähriger Ansässigkeit in Frankreich, deutsche Einkommensteuer nicht anfällt; insoweit liegt eine andere Sachverhaltsgestaltung vor. Für den Veranlagungszeitraum des Wohnsitzwechsels ergibt sich die in Form des Progressionsvorbehalts weiterwirkende deutsche Besteuerung aus §§ 2 Abs. 7 Satz 3, 39b Abs. 1 Nr. 2 , 49 Abs. 1 Nr. 4 EStG. Die Einkünfte, die in die Ermittlung des erhöhten Steuersatzes einzubeziehen sind, können, soweit erforderlich, geschätzt werden (vgl. FG Baden-Württemberg, a. a. O.) - und stehen im Streitfall im übrigen unstreitig fest.
Die Revision ist nicht zuzulassen; grundsätzliche Bedeutung der Sache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) liegt nicht vor. Wie oben ausgeführt, ist ein Zweifelsfall, wie ihn das FG Baden-Württemberg bei ausländischen Einkünften nach Wohnsitzwechsel angenommen hat, im Streitfall nicht gegeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.