Lieber dymo, liebe Forumsmitglieder,
Bei dymos Sachverhalt geht es um eine Krankenversicherung für Grenzgänger in die Schweiz.
Trotzdem empfehle ich allen hier aus dem Forum, das folgende zu lesen. Es zeigt nämlich meiner Meinung nach, wie der Staat, in dem wir leben, gelegentlich vorgeht. Mich hat es geschockt und das Bild von Frankreich, das ich bisher hatte, ein wenig eingetrübt. Leider. Ich glaube, ich muss mal meinen Frust loswerden...

Zur Erklärung muss ich kurz ausholen:
Grundsätzlich gilt für Grenzgänger in die Schweiz das gleiche Prinzip wie für Grenzgänger nach Deutschland. Dank der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU gilt das Freizügigkeitsabkommen, das auch die Sozialversicherung von Grenzgängern regelt.
Also: Ein Grenzgänger in die Schweiz ist erstmal obligatorisch in der Schweiz versichert. Dort erhält er das Formular E106, mit dem er dann von der französischen CPAM (Caisse primaire d'assurance maladie) eine Carte Vitale erhält, um in Frankreich zum Arzt gehen zu können.
Nun gibt es aus historischen Gründen eine Ausnahme: Die Schweiz räumt Grenzgängern ein sogenanntes Optionsrecht ein. Der Grenzgänger kann in den ersten drei Monaten nach Arbeitsaufnahme in der Schweiz entscheiden, ob er sich wie beschrieben in der Schweiz versichern möchte oder lieber nur im Wohnland. Dieses Optionsrecht wurde lange stillschweigend ausgeübt. Das heißt: Hatte man sich nach drei Monaten nicht in der Schweiz versichert, gingen die schweizerischen Behörden davon aus, dass man im Wohnland versichert ist. Die Ausübung des Optionsrechts ist endgültig, man kann sich also später nicht mehr umentscheiden.
Von diesem Optionsrecht hatten die meisten französischen Grenzgänger Gebrauch gemacht: Die günstigste Versicherung in der Schweiz (Helsana) kostet ca. 300 Euro im Monat. In Frankreich hatte man die Wahl zwischen einer privaten Versicherung (ca. 150 Euro inkl. mutuelle) und der CMU (8% des Gehalts). Es war also klar, dass fast alle die private französische Versicherung wählten.
Das war der französischen Regierung nun ein Dorn im Auge. Die gut verdienenden Grenzgänger zahlten nicht in die CMU, sondern in eine private Versicherung. Daraufhin wurde ein Gesetz beschlossen, nachdem private Krankenversicherungen zum 1.6.2015 abgeschafft wurden und alle privat Versicherten in die CMU wechseln mussten - wohl wissend, dass sie sich ja nicht mehr umentscheiden und in der Schweiz versichern durften. Es wurde sogar ein Gesetz beschlossen, nach dem man nicht in einem anderen Land (z.B. in Deutschland) eine private Versicherung abschließen konnte. Wer als Grenzgänger nicht im Sozialsystem des Arbeitslandes versichert ist, der muss in die CMU! In einem weiteren Gesetz wurden die privaten Versicherungen dazu verpflichtet, alle Kundendaten an den Staat zu übergeben, damit keiner entkommen kann.
Es gab eine große Demo auf der A35, die Grenzgängervereinigung in Saint Louis kämpfte juristisch gegen das Gesetz - ohne Erfolg.
Schon Ende 2014 bat die CPAM darum, sich frühzeitig anzumelden, damit am 1.6.2015 nicht der große Antragsstau entsteht. Manche folgten dieser Aufforderung (ich leider auch), manche warteten. Manche schlossen - illegalerweise - eine Versicherung in England ab, um der CMU zu entkommen.
Ich ging im Frühjahr zur CPAM und meldete mich zum 1.6. an (eine sogenannte pré-inscription). Dann jedoch geschah etwas Unerwartetes: Ende April wurde eine Entscheidung des höchsten schweizerischen Bundesgerichts publik: Das Optionsrecht ist nur gültig, wenn es schriftlich ausgeübt wird. Eine stillschweigende Ausübung ist nicht möglich. Daraufhin war klar: Alle Grenzgänger, die noch nie bei den schweizerischen Behörden schriftlich beantragt hatten, von der Versicherungspflicht befreit zu werden, hatten ihr Optionsrecht im juristischen Sinne noch gar nicht ausgeübt und konnten sich somit in der Schweiz versichern.
Das habe ich natürlich schleunigst getan, und viele hunderte (vielleicht sogar tausende) andere französische Grenzgänger auch. Ich schrieb der CPAM, dass ich meine pré-inscription annulliere und ab 1.6. in der Schweiz versichert sein werde. (Bis heute warte ich auf eine Antwort auf diesen Brief.)
Nun begann das Drama...
Die Helsana-Versicherung erhielt eine wahre Antragsflut. Manche erhielten ihr Formular E106 bald im Juni, schickten es zur CPAM, wurden aus der CMU gestrichen und alles war gut. Irgendwann stellte die CPAM aber wohl fest, dass da immer mehr E106 kamen, und dass die schönen Einnahmen, die sie von den reichen Grenzgängern erhofften, wohl zum großen Teil ausbleiben würden.
Daraufhin entschied die Pariser Zentrale der Assurance Maladie am 23.7., dass ab sofort keine Löschungen aus der CMU mehr vorgenommen werden dürfen. Man argumentiert, dass man sich ja mit der Voranmeldung für die CMU entschieden habe (wörtlich: "C'est le choix que vous avez effectué"!). Diese "Wahl" (zu einer Wahl gehören ja eigentlich mindestens zwei Optionen) sei aus französischer Sicht endgültig. Das schweizerische Gerichtsurteil interessiert sie nicht. Als ich Ende Juli mein E106 erhielt und an die CPAM schickte, erhielt ich eine entsprechende Ablehnung.
Die Situation ist nun folgende: Die Schweiz sagt, ich bin in der Schweiz pflichtversichert - zurecht. Aus der Pflichtversicherung kann ich nicht entlassen werden. Frankreich sagt: Sie haben sich bei der CMU angemeldet, da können Sie nicht entlassen werden. Super. Nun soll ich also zwei Krankenversicherungen bezahlen.
Dabei ist die rechtliche Situation eindeutig: Das Freizügigkeitsabkommen legt fest: Die Sozialversicherungen des Arbeitslandes haben Priorität. Außerdem ist geregelt, dass man nicht dazu verpflichtet werden darf, in zwei Ländern Versicherungsbeiträge zu zahlen. Wenn ich also in der Schweiz versichert bin, bleibt Frankreich nichts anderes übrig, als mich aus der CMU zu entlassen. Hinzu kommt, dass die CPAM ja bis 23.7. die Leute aus der CMU entlassen hat. Von der "Égalité", der Gleichbehandlung aller Bürger, ist da also nichts zu spüren.
Diese Regelungen sind der CPAM sicher bekannt. Sie weigern sich dennoch. Man kann Einspruch gegen die Entscheidung einlegen, doch ohne Antwort nach einem Monat gilt der Einspruch als abgewiesen. Das ist bei mir jetzt der Fall. Nun habe ich zwei Monate Zeit, vor dem Tribunal Administratif zu klagen. Es bleibt mir - und allen anderen Betroffenen - also nichts anderes übrig, als mein Recht einzuklagen. Es dürfte ziemlich sicher sein, dass Frankreich diese juristische Auseinandersetzung verliert - spätestens vor dem europäischen Gerichtshof (und das kann dauern). Dennoch halten sie eisern daran fest, um es den Betroffenen so schwer wie möglich zu machen.

Die Grenzgängervereinigung in Saint Louis hat eine Eilklage eingereicht und eine Beschwerde an die Europäische Kommission geschickt. Wir werden sehen, wie es weitergeht. Es ist nicht das erste Mal, dass Frankreich versucht, europäische Regelungen zu ignorieren oder so auszulegen, wie es ihnen passt. Das finde ich sehr schade und eines europäischen Rechtsstaates unwürdig.
Besonders pikant: Alle, die sich nicht für die CMU vorangemeldet hatten, bekommen ihr E106 anstandslos bearbeitet! Die Moral der Geschichte: Tu, was vorgeschrieben ist, und danach wird es gegen dich verwendet.
Nun zu dymo:Helsana weist nur auf diese Lage hin. Wenn du ein Schreiben der CMU hast, dass sie dich freistellen, ist ja alles gut. Dann wirst du auch nicht doppelte Versicherungsbeiträge zahlen müssen, bis die Sache juristisch geklärt ist.
Anbei noch ein paar Links für interessierte Leser:
http://www.bag.admin.ch/themen/krankenversicherung/00316/index.html?lang=dehttp://www.kvg.org/stream/de/download---0--0--0--884.pdfViele Grüße,
ein ziemlich frustrierter Kembser